Die Gewinner der verlorenen Wahl

Von Dorothee Kring
NOCH IMMER IST der junge SPD- Abgeordnete Bodo Wißen hin und her gerissen, wenn er an die Landtagswahl zurückdenkt. Am Tag der schweren Niederlage seiner Partei ging für ihn ein Traum in Erfüllung: Völlig überraschend zog er in den Landtag ein. Wißen stand auf Platz 33 der Landesliste, eigentlich hatte er keine Chance. Doch erfahrene Kollegen kamen nicht zum Zuge, weil die SPD kaum Wahlkreise direkt gewinnen konnte. Dafür schafften viele neue Kandidaten auch von hinteren Listenplätzen den Sprung ins Parlament. So hat die Wahlniederlage der SPD-Landtagsfraktion einen Generationswechsel beschert. 36 der 74 Abgeordneten sind zum ersten Mal im Parlament, elf sind jünger als 40 Jahre. "Für mich ist das wirklich ein Geschenk", sagt Bodo Wißen. Er kommt aus dem Kreis Kleve, hat Geschichte und Politik studiert und vor dem Einstieg in die Berufspolitik als Teamleiter bei der Deutschen Telekom gearbeitet. "Es war mein heißer Wunsch, einmal Abgeordneter zu werden, eine tief befriedigende Aufgabe." Ohne Gegenstimme hat die Fraktion Wißen zum verkehrspolitischen Sprecher gewählt. Der 51jährige freut sich über diese Aufgabe. "Ich fühl‘ mich wie ein Fisch im Wasser." Auch Stefanie Wiegand, 36, gehört zu den Gewinnern der verlorenen Wahl. Die Diplom-Geologin aus Hattingen hat es sogar von Listenplatz 44 in den Landtag geschafft. "Wir gehen ganz praktisch an unsere Aufgaben heran. Ich habe zehn Jahre in der Industrie gearbeitet und gelernt, mich effizient zu organisieren." Ihre politischen Ziele klingen knapp drei Wochen nach Vereidigung der neuen Regierung noch etwas vage. Ökonomie und Ökologie will sie zusammenbringen. In einem Punkt ist die junge Politikerin jedoch entschieden: "Wir werden der CDU keine Ruhe lassen, genau wie Hannelore gesagt hat." Hannelore Kraft, die neue SPD- Fraktionschefin, kommt gut an bei den Landtagsneulingen. "Sie ist keine Chefin, die ständig dazwischenfunkt, aber sie sagt klar, was sie will", sagt Martin Börschel. Der 33jährige Rechtsanwalt hat bereits als SPD-Fraktionsvorsitzender im Kölner Stadtrat politische Erfahrungen gesammelt. Im Landtag möchte er nun eine Köln- Fraktion schmieden, über alle Parteigrenzen hinweg. "Es ist unsere wichtigste Aufgabe, auf Landesebene für die Belange der Kommunen einzutreten", sagt Martin Börschel und zeigt gleich mal, daß er die politische Rhetorik beherrscht: "Wenn auf kommunaler Ebene nicht mehr investiert wird, Straßen nicht saniert werden, erleben wir die Vernichtung von Vermögen, das können sich Kommunen nicht leisten." Die jungen Neuen, sie sind keine jungen Wilden. Sie sind Pragmatiker, sehen sich vor allem als Vertreter ihrer Regionen. Natürlich hätten sie in Düsseldorf gern Regierungsverantwortung übernommen, doch zum Einleben fühlen sie sich auch in der Oppositionsrolle ganz wohl. "Daß wir zum ersten Mal dabei sind, ist vielleicht auch ein Vorteil. Wir werden uns nicht damit aufhalten, Wunden zu lecken", sagt Thomas Eiskirch. Der 35jährige Bochumer will die Interessen des Ruhrgebiets im Landtag immer wieder zur Sprache bringen. "Das Ruhrgebiet ist nicht im Fokus der Regierung", sagt er. Eiskirch engagiert sich in der SPD, seit er 18 Jahre alt ist. "Die politische Arbeit hat mich mehr Zeit gekostet als drei Hobbys, aber es ist eben toll, etwas verändern zu können." Daß er nun Mitglied des Landtags ist, hat Eiskirch noch gar nicht so recht realisiert. "Wahrscheinlich muß ich erst meiner Frau und meinen beiden Kindern meine neue Umgebung gezeigt haben, damit ich richtig ankomme." Eiskirchs Tochter ist acht Wochen alt, mitten im Wahlkampf kam sie zur Welt. Der Ausgang der Wahlen hat die jungen Parlamentarier überrascht und ihren Lebenswegen eine unerwartete Wendung gegeben. Sie nennen den Wechsel in die Berufspolitik "eine Riesenchance", da sind sie sich einig. Daß das Ansehen von Politikern sinkt, berührt sie wenig. "Man kann Berufe mit schlechtem Ansehen gut machen und hochangesehene schlecht", sagt Thomas Eiskirch. Kollege Thomas Kutschaty hat sein altes Leben als Anwalt noch nicht ganz zu den Akten gelegt. Zusammen mit einem Partner hat er vor ein paar Jahren eine Kanzlei gegründet. "Da kann man nicht plötzlich das Schild abschrauben und den Partner im Stich lassen." Noch lebt er also zwischen zwei Welten, freut sich aber auf das Berufspolitikerleben. "Man bekommt natürlich nur einen Zeitvertrag von den Wählern – erst mal nur für fünf Jahre. Aber ich würde den Vertrag gern verlängern." Die Neuen wirken unverkrampft, reden viel von ihren Wahlkreisen, ihre politische Heimat ist noch ganz nah. "Wir stehen weiter beim Straßenfest und müssen unseren Wählern in die Augen sehen", sagt Stefanie Wiegand. Sören Link, mit 29 der jüngste der Neuen, durfte als erster im Parlament eine Rede halten, über die Ausbildungssituation in Duisburg-Walsum, seiner Heimat. Als er sprach, saßen Bürger aus seinem Wahlkreis auf der Zuschauertribüne. "Das war mir unheimlich wichtig", sagt Sören Link, "die sollen mitbekommen, daß im Parlament von ihren Problemen die Rede ist." Sören Link hat nicht nur Applaus bekommen, doch er ist lange genug im politischen Geschäft, um zu wissen, daß es genau darum geht. "Als die von der FDP gebuht haben, da wußte ich, daß ich alles richtig gemacht habe." Altersstruktur der Landtagsiraktionen CDU-FRAKTION • 36 der 89 CDU- Abgeordneten sind erstmals im Parlament. 14 sind unter 40 Jahre alt. SPD-FRAKTION • Auch die SPD schickt 36 Neulinge ins Parlament. 11 Parlamentarier sind jünger als 40. FDP-FRAKTION • Bei der FDP fängt im Landtag niemand neu an, sechs Abgeordnete sind unter 40 Jahre alt. DIE GRÜNEN • Für die Grünen sitzen 3 Abgeordnete erstmals im Parlament, niemand ist unter 40 Jahre.