Von Jens Radü
In NRW tobt der Fächerstreit: Das Kombinationsfach "Naturwissenschaft" wurde von der neuen Regierung kassiert, während Bayern und Baden-Württemberg damit längst Pisa-Erfolge feiern. Die Lehrer sind frustriert, Verlage bleiben auf ihren Lehrbüchern sitzen.
Biologie-Unterricht in der Waldschule: Selbstentdeckendes Lernen und Schüler-Aktivierung
Sie hatten alle Trümpfe ausgespielt: Alle Schlagwörter, die in der Pisa-Ära als bildungspolitische Verheißung gehandelt werden, hatten die Bildungsexperten der rot-grünen Landesregierung benutzt: "Fächerübergreifender Unterricht", "vernetztes Lernen", "Schüler-Aktivierung". In der Pisa-, Timss- und Iglu-Welt des deutschen Bildungssystems hatten die Politiker damit den Nerv der Zeit getroffen. Denn es ging um die Naturwissenschaften. Die Sorgenfächer, gerade in Nordrhein-Westfalen. In Physik, Biologie und Chemie liegen die Schüler in NRW laut Pisa unter dem OECD- und Deutschland-Durchschnitt.
Um die Fächer populärer und den Unterricht besser zu machen, hatte die damalige Kultusministerin Gabriele Behler im Jahr 2002 vorgeschlagen, die Fächer Biologie und Physik in der fünften Klasse zusammenzufassen. Wie in England, da heißt das Kombinationsfach "Science". Auf Kritik musste die Ministerin nicht lange warten. Nicht nur die schwarz-gelbe Opposition warf ihr vor, Pisa als Feigenblatt für Lehrer-Einsparungen zu benutzen. Auch die Interessensverbände waren zunächst skeptisch. Denn gerade Fachkräfte für Naturwissenschaften sind nach wie vor Mangelware auf dem Pädagogen-Markt, das Geld für Neueinstellungen war knapp.
Unterricht in der Geburtsklinik
Doch das Fach wurde gegen alle Kritik trotzdem eingeführt. Im Modellversuch. In über 200 Schulen unterrichteten die Lehrer in der fünften und sechsten Klasse nun Biologie und Physik zusammen. Sie erklärten beim Thema Winter sowohl die Aggregatzustände des Wassers als auch den Winterschlaf. Machten Ausflüge in die Geburtsklinik, wenn es um Sexualerziehung ging. Und begeisterten Schüler und Eltern. Wie in Dormagen, auf dem Bettina-von-Arnim-Gymnasium.
Physiklehrer Friedrich Grohé ist nun enttäuscht. Der Pädagoge hat sich zwei Schuljahre lang auf das neue Fach eingelassen. Er hat Konzepte entwickelt, Ausflüge geplant, Fortbildungen besucht. Doch die neue schwarz-gelbe Landesregierung setzte das Fach "Naturwissenschaft" in erster Amtshandlung sofort wieder ab. "Da wird man erst ins Wasser geworfen, dann entwickelt man langsam die ersten Schwimmtechniken und kaum hat man es raus, wird das Wasser abgelassen", sagt Grohé. Bis zum Ende des Schuljahrs darf das Kombinationsfach an den Modellschulen zwar noch weiter unterrichtet werden, das hat das neue Schulministerium zugestanden. Aber dann ist Schluss.
Bücherberg: Auf 32.000 Lehrbüchern bleibt der Klett Verlag nun sitzen
"Wir haben das Fach ja nicht aus parteipolitischem Interesse abgesetzt", erklärt Oliver Mohr, Sprecher des Schulministeriums NRW. Schließlich sei die Verwässerung der Lerninhalte nicht sinnvoll. "Das haben wir ganz nüchtern entschieden", sagt Mohr. Bildung ist Ländersache. Und jedes Land kann entscheiden, was es für sinnvoll hält und was nicht. Das kleine Beispiel der "Naturwissenschaften" gewährt jedoch einen tiefen Einblick in die Unstimmigkeiten des föderalen Bildungssystems.
Neue Konzepte, alte Argumente
Denn in Bayern und Baden-Württemberg, den Pisa-Gewinnern im Deutschland-Vergleich, ist das Kombinationsfach "Naturwissenschaft" längst aus der Testphase heraus. In der fünften und sechsten Klasse sind in Bayern und Baden-Württemberg die Naturwissenschaften im Gymnasium zusammengefasst. Die Namen sind unterschiedlich. Das Konzept ist gleich. "Natur und Technik" sagen die Bayern. Die Pädagogen in Baden-Württemberg unterrichten gar "Naturphänomene".
Die Pisa-Sieger setzen auf das Kombinationsfach. "Wir haben von Lehrern und Eltern bisher nur einhellige Zustimmung erfahren", sagt Thomas Gottfried vom Kultusministerium Bayern. Er benutzt ähnliche Schlagwörter wie damals die rot-grüne NRW-Regierung: "Selbstentdeckendes Lernen", "abstraktes Denkvermögen". In Baden-Württemberg sind die Erfahrungen ähnlich. Nur die schwarz-gelbe Koalition in NRW kämpft einen einsamen Kampf gegen die "Verwässerung" der Naturwissenschaften.
Das Argument ist alt, es stammt noch aus Oppositions-Zeiten. Und deshalb wurde das Fach auch direkt nach der Wahl kassiert. Es ging um Glaubwürdigkeit. Sinnvoll oder nicht. Schließlich muss doch irgendwann mal Schluss sein. Mit der Vernetzung. Mit dem abstrakten Denkvermögen. Mit der Verwässerung. Je nachdem, in welchem unionsgeführten Land man sich gerade befindet.
32.000 Bücher für die "Ablage P"
Das politische Ränkespiel in NRW trifft jedoch nicht nur Schüler und Lehrer. Leidtragende sind auch die Schulbuch-Verlage. Denn für das Fach wurden schon 40.000 Bücher entwickelt, konzipiert und gedruckt, für alle vier Schulformen in NRW. "Auf einem Großteil der Bücher werden wir wohl sitzen bleiben", erklärt Janna Kuchenbäcker vom Klett Verlag in Stuttgart. Mindestens 32.000 Bücher würden in der "Ablage P" landen: im Papierkorb. Etwa 1,1 Millionen Euro gehen dem Verlag so verloren. Und die Kommunen, die schon bestellt haben, benutzen Bücher für ein Fach, das es nicht gibt. Verkehrte Welt zwischen Rhein und Weser.
Für die bildungspolitische Offensive sorgt die schwarz-gelbe NRW-Regierung derweil auf ihre Art. 1000 neue Lehrerstellen sind neu besetzt worden, heißt es aus dem Kultusministerium. Als schnelle Hilfe gegen die Stundenausfälle. In Dormagen ist von dieser Hilfe jedoch noch nichts angekommen. Schulleiter Bernard Schieren ist mit einem satten Minus im Dienstplan ins neue Schuljahr gestartet. Er prognostiziert mindestens 60 Stunden Unterrichtsausfall – auf neue Lehrer wartet Schieren vergeblich. "Ich hab die Parkplätze mal freigehalten, aber es kommt keiner."