Es geht um die nackte Existenz

MARCUS SCHYMICZEK Es ist wie am Morgen nach einer durchzechten Nacht. Der Schädel brummt, die Zunge ist belegt, der Geschmack fade. Ach, wäre das doch nur ein schlechter Traum. So oder ähnlich muss sich gestern Klaus Beyhoff gefühlt haben. Als der Vorsitzende der Borbecker Interessengemeinschaft „CeBo" am Abend zuvor beim Empfang des Einzelhandelsverbandes aus dem Saal gebeten wurde, da fürchtete er Schlimmes.

Ist irgendwas daheim mit der Familie? Nein, es sollte kein persönlicher Schicksalsschlag sein, der ihn da draußen erwartete, doch was Klaus Beyhoff zu hören bekam, traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Noch am Morgen danach ringt der Sprecher der Borbecker Kaufmannschaft um die richtigen Worte. Hertie macht dicht.

„Das ist der Super-Gau!" Die ersten klaren Gedanken erinnern an einen Passagier auf einem leck geschlagenen Schiff: Retten, was zu retten ist, so lange der Kahn sich noch über Wasser hält. „Was ist mit dem Parkhaus? Auch das gehört Hertie. Der Gedanke ist mir erst heute früh gekommen", erzählt Beyhoff und fragt sich selbst. „Wo sollen die Leute denn parken, wenn Markt ist? Das Parkhaus muss offen bleiben." Wenigstens das.

Es sind die ersten Reflexe, wo es sonst wohl nichts mehr zu retten gibt. Kein „Superladen" sei Hertie in Borbeck, aber ein „Frequenzbringer", ja, ein „Magnet" sei das Warenhaus für das Stadtteilzentrum allemal. Umso härter trifft Borbeck das Aus.

Als Mittelzentrum hat es Borbeck schwer. Einige Probleme sind von der Politik hausgemacht. Discounter haben sich am Wolfsbankring eingerichtet. Der ist Luftlinie zwar nur ein paar hundert Meter entfernt, aber zu weit weg, als dass Kunden einen Abstecher nach Borbeck hinein machen. Und wer nicht gerade Lebensmittel braucht, fährt sowieso leicht ein paar Kilometer weiter. Rhein-Ruhr-Zentrum und Centro in Oberhausen liegen gleich vor der Haustür.

„Wir sind umzingelt", klagt Beyhoff und fürchtet das Schlimmste. Es geht um die Existenz. „Ohne einen Magneten wie Hertie kann dieser Stadtteil nicht überleben."

„Super-Gau", „Katastrophe", „Tiefschlag" – es sind immer die gleichen Worte, die ausdrücken, dass einem die Worte fehlen. „Ich bin sprachlos", sagt Günter Gerdiken und redet dann doch. „Für den gesamten Einzelhandel und für die Bürger ist das ein Fiasko", so der Sprecher der Interessengemeinschaft Altenessen.

Andere greifen zu Stift und Papier. Thomas Kutschaty, SPD-Landtagsabgeordneter für den Essener Norden, forderte die Hertie-Geschäftsleitung auf, von der Schließung Abstand zu nehmen. Der Rückzug aus den Stadtteilen sei ein fatales Signal und herber Rückschlag, für alle die sich um die Attraktivität der Mittelzentren bemühten. Kutschatys Stellungnahme sollte die einzige bleiben, die gestern aus der Politik in der Redaktion einging. Aber Papier ist ja geduldig.

Auch im Altenessener Allee-Center macht Hertie also dicht. Dass die Warenhauskette dort nicht Mieter ist, sondern Miteigentümer, macht die Sache nicht besser. „Dabei wird der Laden doch gut besucht, meint Günter Gerdiken. Noch am Morgen hatte er sich auf dem Parkplatz umgesehen. „Der war voll." Nun droht ein Schreckensszenario – nicht nur die Parkplätze könnten schon bald verwaist sein. Aber was ist mit denen, die weniger mobil sind? „Die Bevölkerung in Altenessen wird immer älter. Wo soll Oma Möllmann denn hin mit ihrem Wägelchen?"

Die Hoffnung heißt ECE. Die Hamburger Projektmanagementgesellschaft, die auch das Einkaufszentrum am Limbecker Platz betreibt, ist Mitbesitzer, mit 9500 Quadratmetern gar der größere. ECE dürfte kaum Interesse daran haben, dass unter dem selben Dach 6000 Quadratmeter Verkaufsfläche leerstehen. Nach Auskunft des Center-Managements führen die Hamburger Gespräche mit dem britischen Investor Dawnay Day, der Hertie 2005 von Karstadt-Quelle übernommen hatte.

Das Prinzip Hoffnung reagiert auch an den anderen beiden Essener Hertie-Standorten, in Steele und in Rüttenscheid. Beide Häuser bleiben geöffnet. Aber wie lange noch? Keine Frage, sollte Hertie auch an der „Rü" aufgeben, träfe dies den gesamten Stadtteil, wenngleich nicht so heftig wie Borbeck oder Altenessen. „Dinge des täglichen Bedarfs gibt’s nur bei Hertie", betont Rolf Crane, Sprecher der Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR). „Wer eine Bratpfanne kaufen will, muss sonst gleich in die Innenstadt fahren." Vielleicht, so Crane, könnte das Aus für Rüttenscheid auch eine Chance bedeuten. „Es gibt ja Leute, die mit der Immobilie etwas anderes vorhaben."

Makler Eckhard Brockhoff hatte öffentlich sein Kaufinteresse bekundet. Aus dem Warenhaus wollte er ein Büro- und Geschäftshaus machen. Etwa fünf Jahre ist das her. Der Markt, so Brockhoff, sei heute „ein ganz anderer". Banken üben sich in Zurückhaltung, die Baupreise sind gestiegen, und niemand vermag mit Sicherheit vorauszusagen, wie weit die Finanz- und Wirtschaftskrise tatsächlich durchschlägt. Sicher sei: Der Standort an der Rü sei äußerst attraktiv. Das Gebäude allerdings könne man Brockhoffs Einschätzung nach nur noch abreißen und dafür ein neues bauen.

Während in Rüttenscheid gedanklich schon die Abrissbirne schwingt, baut Leon Finger in Steele auf ein solides Fundament: Das Hertie-Haus am Platze sei „deutlich kleiner" und schon deshalb leichter zu führen. Die wirtschaftlichen Belastungen durch Miete, Personal und Lagerhaltung seien geringer, ist der Vorsitzende des Initiativkreises City-Steele überzeugt. Sollte das Haus doch verkauft werden, fände sich sicher schnell ein Käufer.

„Warenhäuser seien heute nicht mehr die Magneten wie früher", relativiert Finger, was Steele zumindest von Borbeck unterscheiden würde. Und noch eines trenne die beiden Stadtteilzentren – riesige Einkaufszentren in unmittelbarer Nachbarschaft, die gibt es in Steele nicht. Das nennt man wohl Standortvorteil. Der Hertie-Standort in Rüttenscheid gehört für Immobilienmakler Eckhard Brockhoff zu denen, die Zukunft haben – auch ohne Warenhaus. Brockhoff hatte den Bau schon vor fünf Jahren von Karstadt kaufen wollen, doch der Konzern wollte das Haus nur im Paket loswerden. Ob er noch immer Interesse hat? „Heute", sagt Brockhoff, „ist der Markt ein ganz anderer…".

Quelle: NRZ / DerWesten.de