VON DENNIS VOLLMER „Norbert, erklär‘ uns doch mal das Wohn- und Teilhabegesetz”, Hannelore Kraft fährt die Stimme tief herunter auf die sonore Schröder-Lage. Im locker-souveränen Ton ist Podiumsmoderator und SPDler Thomas Kutschaty vorerst „abgelöst”, aber schließlich erwarten die Genossen und Gäste im Haus des Sports das auch von einer Fraktionsvorsitzenden, die den NRW-Landesvater Rüttgers vom Ministersessel schubsen will.
Das politische Feindbild am Dienstagabend ist zunächst der CDU-Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: „Wir hau’n dem Laumann einen drauf”, verspricht „Norbert” (Killewald) kämpferisch, dann setzt der sozialpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion zurück: „Nein, wir sind nur unterschiedlicher Meinung.”
Es geht um die Zukunft der Pflegebedürftigen und der – einrichtungen. Das Expertenpodium ist mit Killewald, dem Essener Awo-Mann Andreas Möller und Sozialamtleiter Klaus Konietzka auch lokal gut besetzt. Der Saal ist proppevoll, nicht nur mit älteren Menschen. Denn bis 2050 wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen in NRW wohl auf eine Million verdoppeln. Die Zahl der „Hochbetagten” – Menschen über 75 – steige in Mülheim gar auf 22,3 %, rechnet Konietzka vor. Im Landesvergleich (18,2 %) sei man die „älteste” Stadt in NRW und werde bei Immobilieninvestoren schon als „Tipp” gehandelt. Kraft sieht’s positiv: „Wir werden alt in dieser Stadt.”
Dabei gibt es augenblicklich sogar ein Überangebot an Einrichtungen mit entsprechend geringerer Auslastung: Von Belegungsquoten von 60-80 % landesweit spricht Killewald. Kostendeckend arbeiten diese Institutionen jedoch ab 90 bis 95 %. Auch Konietzka sieht viele der 17 Mülheimer Einrichtungen mit 1861 Pflegeplätzen weit unter der geforderten Auslastung. Das hätte auf Dauer Personal- und Leistungsabbau zur Folge, prognostiziert er, sowie Verdrängungskämpfe zwischen den Einrichtungen. Schuld an der Überversorgung trage eine hohe Abschreibemöglichkeit für Neubauten von 4 %. Seit 1. Juli 2008 stoppte das Land zwar die Vergünstigungen, der Markt muss sich jedoch erst regulieren. Zudem: Die Reform der Pflegebetreuung wird künftig die ambulante Versorgung weiter stärken. Das so genannte Wohn- und Teilhabe-Gesetz (WTG) ist im Januar in Kraft getreten, mit zweijähriger Übergangszeit, in der am Ende die Auswirkungen evaluiert werden sollen. Von einem „lernenden Gesetz” spricht Killewald deshalb gerne.
„Es erweitert den Blickwinkel auf die Gestaltung der ganzen Lebenswelt”, so Konietzka. Und wirbt um das Mülheimer Handlungskonzept einer „seniorengerechten Stadt”. Ältere wollen möglichst lange zuhause bleiben, so der Sozialamtleiter. Er will Pflegestützpunkte in den Stadtteilen mit „sozialräumlichen Bezug” schaffen. Zwei seien zusammen mit der AOK geplant, „andere Kassen waren dazu nicht bereit”. Der Verhandlungsprozess sei nicht einfach gewesen, kritisierte er, „weil Pflegekassen nur ein neues Schild auf ihre Büros machen wollten”, die Leistungen sollte die Stadt zahlen. Dank der Reform diskutiere man über die Kosten nun auf Augenhöhe.
Mit dem Grundsatz „ambulant vor stationär” ist Andreas Möller als Leiter der Essener Awo-Einrichtung „Maria-Juchacz-Haus” allerdings pauschal nicht einverstanden, denn – „wo kann ich alt werden, wenn ich mich nicht mehr versorgen kann?”
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit”, ergreift Kraft die Chance auf Wahlkampf. Die SPD stärkte zwar unter Schröder die Leiharbeit, aber Unternehmen missbrauchten sie, um Regelarbeitsverhältnisse zu ersetzen. Dann teilt Kraft weiter aus gegen die FDP, die den Pflegemarkt selbst regulieren lassen will, anstatt regionale Bedarfsplanung einzuführen: Wohin das geführt habe, zeige die Finanzkrise. Für die markigen Töne gibt es Beifall – vielleicht später auch ein Kreuz auf dem Stimmzettel.