
Frau Präsidentin!
Guten Morgen, meine Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren!
Vor drei Wochen brachen aus der Justizvollzugsanstalt Aachen zwei Schwerverbrecher aus und beunruhigten die Öffentlichkeit nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern über die Landesgrenzen hinaus. Michael Heckhoff und Peter-Paul Michalski gelten als extrem gewaltbereit und gefährlich. Auf ihrer Flucht nahmen sie mehrere Geiseln. Am 29. November gelang es der Polizei, Heckhoff in Mülheim an der Ruhr und Michalski in Schermbeck festzunehmen.
Die Umstände und die Ursachen der Flucht lassen aber nach wie vor – auch heute noch, drei Wochen nach dem Ausbruch – viele Fragen offen. Die Ministerin war sich jedoch sehr schnell ganz sicher, wie es war. Obwohl die beiden Häftlinge noch nicht gefasst waren, war für sie schon klar, wer keine Fehler gemacht hatte. Zweifel am richtigen Personalbestand oder am Krankenstand ließen Sie erst gar nicht zu, Frau Ministerin. Allein verantwortlich sei ein einzelner krimineller Bediensteter gewesen.
Entgegen Ihrem eigenen Grundsatz, sich nicht in laufende Ermittlungsverfahren einzumischen, und unter Missachtung der Unschuldsvermutung schoben Sie gleich alle Verantwortung für den Ausbruch auf einen einzelnen Bediensteten und machten sich keinerlei Gedanken, ob Sie evtl. auch etwas damit zu tun haben. So einfach, Frau Ministerin, können Sie sich das hier nicht machen.
Die Kontrolle über die Vorgänge haben Sie mittlerweile längst verloren. Abwechselnd geben hektisch Staatsanwaltschaft Aachen und das Ministerium Pressekonferenzen und Presseerklärungen. Zugegeben wird immer nur etwas scheibchenweise, nämlich das, was gerade bekannt geworden ist oder bekannt zu werden droht. Die Presse spricht von einer Salamitaktik. Scheibchenweise kommt die Wahrheit ans Licht. Ich frage Sie, Frau Ministerin: Wie lang ist die Wurst denn noch?
Mit Ihrer Taktik haben Sie zumindest jedes Vertrauen in die Sicherheit unseres Strafvollzuges in Nordrhein-Westfalen gefährdet. Dafür tragen Sie die Verantwortung.
Nach wie vor gibt es Unklarheiten und Unwahrheiten. Lassen Sie mich vielleicht einmal auf drei Punkte zu sprechen kommen, drei Fragen, die nach wie vor noch im Raum stehen und ungeklärt sind.
Erste Frage: Seit wann ist die Pforte in der Justizvollzugsanstalt Aachen nur mit einem Bediensteten besetzt? Beim Ausbruch war das so. Das steht, glaube ich, mittlerweile fest. Es steht auch wohl fest, dass der Ausbruch hätte verhindert werden können, wenn die Pforte mit zwei Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern besetzt gewesen wäre.
Sie, Frau Ministerin Müller-Piepenkötter, sagten, das sei schon lange so. 2002/2003 sei es schon so gewesen, dass die Pforte in der Nacht nur mit einem Mitarbeiter der Nachtschicht besetzt gewesen ist. Jetzt erfahren wir das genaue Gegenteil. Wir erfahren nämlich von einer Dienstanweisung vom 8. Mai 2008. Man höre: 2008, Frau Ministerin; da waren Sie schon einige Jahre im Amt. Damals ist die Personalreduzierung an der Pforte durchgesetzt worden. Sollten sich die Presseberichte dazu als wahr erweisen, Frau Ministerin, so haben Sie dem Parlament und der Öffentlichkeit die Unwahrheit erzählt.
Nach Angaben Ihrer Sprecherin in den „Aachener Nachrichten“ vom 10. Dezember 2009 wussten Sie von Ihrer Falschaussage schon seit über einer Woche. Ich frage Sie: Warum haben Sie nicht die Gelegenheit genutzt, das Parlament und die Öffentlichkeit zu informieren und Ihre Falschaussage zu berichtigen?
Der zweite Punkt, der immer noch unklar ist, meine Damen und Herren: Warum haben Sie die ernsthaften Warnungen aus der Justizvollzugsanstalt Aachen, die Ihnen mitgeteilt worden sind, nicht ernst genommen? Der Personalrat schreibt Ihnen einen Brandbrief. Er macht auf Missstände in der Justizvollzugsanstalt aufmerksam. Er schreibt sehr deutlich, dass die Sicherheit in der Anstalt nicht mehr gewährleistet ist.
Was machen Sie? – Sie machen einen Plan zum Abbau von Überstunden. Sie reduzieren das Personal in der Schicht von 50 auf 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Lage wird dadurch immer explosiver und nicht sicherer. Da hilft es auch nicht, fünf neue, ungelernte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hektisch nach Aachen zu schicken. Die müssen erst eingearbeitet werden und stellen daher eher eine Belastung als eine Entlastung dar. So kann das nicht funktionieren.
Die dritte Frage, die wir hier zu diskutieren haben, lautet: Warum wurden die Warnungen bezüglich des mutmaßlichen Fluchthelfers Michael K. nicht ernst genommen oder nicht richtig bewertet? Denn Michael K., der 40-jährige Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Aachen, ist kein unbeschriebenes Blatt. Schon einmal wurde gegen ihn wegen des Verdachts der Gefangenenbefreiung ermittelt. Es ist anstaltsbekannt gewesen, dass er zuvor einen engen Kontakt zu den beiden Ausbrechern hatte. Die erforderliche Distanz war nicht mehr gegeben. Wie die Staatsanwaltschaft Aachen jetzt mitteilte, wurde Michael K. zehn Tage vor dem Ausbruch dabei beobachtet, wie er von einer Ehefrau eines anderen Gefangenen Geld, nämlich 200 €, angenommen hat. Gleichzeitig wird bekannt, dass in der Justizvollzugsanstalt Aachen umfangreiche Ermittlungen wegen eines schwunghaften Drogenhandels stattfinden.
Was wussten Sie, Frau Ministerin, von diesen Verdachtsmomenten? Was wusste Ihr Haus von diesen Verdachtsmomenten? – Ich kann natürlich verstehen, dass die Strafverfolgungsbehörden ein Interesse daran haben, Hintermänner eines großen Drogenhandels zu finden, aufzuklären, und vielleicht die Sache erst einmal laufen lassen.
Aber in diesem Fall muss auch eine Abwägung vorgenommen werden, Frau Ministerin: auf der anderen Seite das Interesse, Straftaten aufzuklären, auf der anderen Seite aber doch die erheblichen Sicherheitsinteressen in einer Justizvollzugsanstalt. Eine Justizvollzugsanstalt ist kein Mädchenpensionat, gerade Aachen nicht. In dieser Justizvollzugsanstalt werden Langzeitstrafen verbüßt; dort gibt es Sicherungsverwahrungen. Es ist grob fahrlässig, Sicherheitsrisiken ganz bewusst bestehen zu lassen und gerade den Verdächtigen sogar ganz alleine nachts an die Pforte zu lassen.
Das Risiko war eindeutig größer als die mögliche Chance einer Aufklärung einer anderen Straftat. Dieses Risiko sind Sie eingegangen, und damit haben Sie die Sicherheit in diesem Land erheblich gefährdet.
Frau Ministerin, so, wie Sie in dieser Sache aufgetreten sind, darf man nicht auftreten. Da kann man nicht lachend verkünden, die Knäste im Land seien so sicher wie nie. Ich darf Ihnen schildern: Ich wohne in Essen, an der Stadtgrenze zu Mülheim. In meinem Wahlkreis, in meinem direkten Umfeld haben sich die Verbrecher mehrere Tage lang aufgehalten. Es gab ernsthafte Diskussionen unter den Eltern und in der Schule meiner Kinder: Können wir die Kinder morgens noch alleine zur Schule gehen lassen?
Die Leute hatten Angst, abends auf die Straßen zu gehen. Das war ein unerträglicher Zustand. Da kann man nicht lächelnd sagen, der Knast sei sicher. Ihr Sicherheitsempfinden hat sich ganz, ganz weit von dem Sicherheitsempfinden der Bevölkerung entfernt, Frau Ministerin.
Jetzt, da immer neue Details an die Öffentlichkeit kommen, wirkt Ihr Verhalten – ich sage es vorsichtig – einfach nur noch peinlich.
Angemessen wäre es, die Probleme im Vollzug und insbesondere die Probleme der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Vollzug ernst zu nehmen sowie die Sache schonungslos aufzuklären. Sie sind offensichtlich dazu nicht in der Lage. Frau Ministerin, machen Sie Platz, damit andere die Sache aufklären können!