Grußwort zum Festakt zum 100-jährigen Bestehen der JVA Essen

Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Paffrath!

Die Justizvollzugsanstalt Essen feiert heute ihr 100-jähriges Bestehen. Ihre Einladung, sehr geehrter Herr Paffrath, zu diesem Anlass ein Grußwort sprechen zu dürfen, habe ich gerne angenommen. Denn ich verbinde mit der Justizvollzugsanstalt Essen auch einige persönliche Erinnerungen.

Ich bin in Essen geboren, aufgewachsen und lebe mit meiner Familie auch heute noch hier. Bis zu meiner Ernennung zum Justizminister war ich seit 1997 in dieser Stadt als Rechtsanwalt tätig. Meinen ersten näheren Kontakt mit dem Vollzug hatte ich anlässlich eines Mandantenbesuchs in der Justizvollzugsanstalt Essen. Aufgrund ihres Standortes, unmittelbar an das Essener Amts- und Landgericht angrenzend, habe ich die Anstalt während meiner beruflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt die ganzen Jahre im wahrsten Sinne des Wortes „nicht aus den Augen verloren". Als Strafverteidiger hatte ich während der Sitzungspausen häufig mit dem Angeklagten das Gebäude der Justizvollzugsanstalt Essen im Blick. Das war eine gute Gelegenheit, ihn darauf hinzuweisen, dass seine weitere Begehung von Straftaten irgendwann zwangläufig dazu führen würde, auch das Innere der Anstalt kennenzulernen. Entgegen einer verbreiteten Meinung bemühen sich auch Rechtsanwälte, ihre straffällig gewordenen Mandanten zu veranlassen, ihre Lebensgestaltung zu überdenken.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ob das Jubiläum einer Justizvollzugsanstalt zum Feiern einlädt, wird sicherlich unterschiedlich beurteilt. Jedenfalls besteht aber Anlass, einen Augenblick innezuhalten, zurückzublicken und über die künftige inhaltliche Gestaltung des Strafvollzuges in Nordrhein-Westfalen nachzudenken.

Lassen Sie uns zunächst kurz einen Blick auf die letzten 100 Jahre in der Geschichte der Justizvollzugsanstalt Essen werfen:

Durch die zunehmende Industrialisierung stieg die Einwohnerzahl der Städte so stark, dass die bis dahin bestehenden kleinen örtlichen Gefängnisse aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert bei weitem nicht mehr ausreichten. In ihnen herrschte drangvolle Enge mit unzumutbaren Verhältnissen. Es kam daher zum Bau großer zentraler Gefängnisse, wie hier in Essen.

Am 1. Oktober 1910 konnte das neue fünfgeschossige Gefängnis für Männer an der Andreasstraße, der heutigen Krawehl­straße, bezogen werden. Die preußische Bauverwaltung hatte an diesem Standort zusammen mit dem Männergefängnis und dem angrenzenden Frauengefängnis auch ein neues Land- und Amtsgericht gebaut.

Im 2. Weltkrieg wurde die Anstalt durch Luftangriffe weitgehend zerstört. Der Wiederaufbau der Anstalt auf den alten Grundrissen, der teilweise auch mit Hilfe von Gefangenen durchgeführt wurde, war Mitte der 50er-Jahre abgeschlossen. Hierbei wurde, wie damals üblich, auch das Trümmermaterial verwendet. Dies führte jedoch zu Qualitätseinbußen bei der Bausubstanz.

Aufgrund des schlechten Bauzustands gab es in den 90-er Jahren schließlich Überlegungen, die Justizvollzugsanstalt Essen zu schließen und durch eine Anstalt in Gelsenkirchen zu ersetzen. Hierzu kam es jedoch nicht. Vielmehr machte es die angespannte Belegungssituation notwendig, nicht nur eine neue Justizvollzugsanstalt zu bauen, sondern auch die Justizvollzugsanstalt Essen im Männerbereich mit rund 500 Haftplätzen weiter zu betreiben.

Als sich diese Entwicklung abzeichnete, sind Investitionen in Millionenhöhe in die Renovierung der Anstalt, deren Modernisierung und weiteren Ausbau geflossen. So konnten Anfang des letzten Jahres die lang ersehnte Sporthalle, neue Werkstätten sowie Funktionsräume in Betrieb genommen werden.

Durch diese Baumaßnahmen wurden die baulichen Grundbedingungen für einen modernen und zeitgemäßen Behandlungsvollzug geschaffen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

welche Aufgaben hat ein moderner und zeitgemäßer Behandlungsvollzug?

Kurz gesagt: er muss vor allem den Inhaftierten unterstützende Hilfsmaßnahmen anbieten, durch die sie befähigt werden, nach ihrer Entlassung ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ohne erneut straffällig zu werden und dabei auch, Verantwortung gegenüber den Opfern von Straftaten übernehmen, dem berechtigten Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung in besonderer Weise Rechnung tragen. Da durch die Grundgesetzänderung im Jahre 2006 die Gesetzgebungskompetenz zur Regelung des Strafvollzugs auf die Länder übergegangen ist, wird Nordrhein-Westfalen diese Möglichkeit als Chance nutzen und in naher Zukunft ein modernes Strafvollzugsgesetz auf den Weg bringen, das diese Aufgaben im Einzelnen regelt. Selbstverständlich wird dieses Gesetz die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten spezifischen verfassungsrechtlichen Grundsätze ebenso einbeziehen, wie die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze. Auf diese Weise erhält die Praxis eine sichere Grundlage für ihre Arbeit.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

zur Ausgestaltung des Strafvollzuges als Behandlungsvollzug gibt es der Boulevardpresse zum Trotz keine Alternative. Nur so können wir erreichen, dass die Verurteilten nach der Entlassung nicht erneut straffällig werden. Ich setze mich deshalb für einen intelligent und flexibel ausgestalteten Behandlungsvollzug unter Einbeziehung einer möglichst breiten Palette wiedereingliederungsfördernder Maßnahmen ein.

Hierzu gehören auch die Verbesserung des Übergangsmanagements im Rahmen der Haftentlassung sowie die Förderung des ehrenamtlichen Engagements von Bürgern im Strafvollzug als wichtige Brücke für die Inhaftierten zur Außenwelt. An dieser Stelle möchte ich alles ehrenamtlich Tätigen, insbesondere aber auch dem Beirat, meinen Dank aussprechen.

Von besonderer Wichtigkeit ist für mich auch die gezielte Verlegung von Gefangenen in den offenen Vollzug. Dort wird ein Lern- und Trainingsfeld von unschätzbarer Bedeutung bereit gestellt. Der offene Vollzug ist seit Jahrzehnten in Nordrhein-Westfalen anerkannt und erprobt. Hier nimmt Nordrhein-Westfalen bundesweit einen Spitzenplatz ein. Gleichwohl mussten wir feststellen, dass im Rheinland die Haftplätze im offenen Vollzug nicht ausreichen. Dies wollen wir ändern.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ein moderner Behandlungsvollzug muss immer die individuellen Bedürfnisse der Inhaftierten im Blick haben, um erfolgreich wirken zu können. Deshalb muss der Strafvollzug bei Frauen anders ausgestaltet sein als bei Männern. Auch die Justizvollzugsanstalt Essen hatte ihre Erfahrungen mit inhaftierten Frauen. Nach dem Krieg war hier eine Abteilung für weibliche Gefangene angegliedert bis diese im Jahr 1998 in die Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen verlagert wurde.

Kriminalität bleibt jedoch im Wesentlichen Männersache. Nur 6 % der Strafgefangenen in Nordrhein-Westfalen sind Frauen. Frauen üben in der Mehrheit der Fälle keine Gewalt bei der der Begehung von Straftaten aus. Man kann sagen: Je gewalttätiger, desto männlicher. Dementsprechend gibt es auch seit Jahrzehnten in Nordrhein-Westfalen keine in der Sicherungsverwahrung untergebrachte weibliche Personen. Frauen reagieren auch anders auf ihre Straffälligkeit. Bei ihnen sind häufig in viel stärkerem Umfang als bei den Männern Schuld- und Schamgefühle festzustellen.

Diese erfreulicherweise starke Unterrepräsentation der weiblichen Gefangenen im Vollzug darf aber nicht zur Folge haben, dass sie bei unseren Bemühungen, die Resozialisierung durch einen Ausbau des Behandlungsvollzugs zu verbessern, nicht genügend Beachtung finden. Der Strafvollzug muss vielmehr geschlechterorientiert ausgestaltet werden. Das bedeutet, dass die besonderen Lebensrealitäten von Frauen unter Beachtung ihres sozialen Werdeganges und ihrer Lebensbeziehungen berücksichtigt werden müssen. Das wird bereits jetzt in großem Umfang geleistet. So stehen aufgrund des hohen Anteils von suchtkranken Frauen eine Vielzahl von Hilfsangeboten zur Verfügung. Zudem gibt es in allen Fraueneinrichtungen umfangreiche Angebote zur beruflichen Orientierung und Qualifizierung mit insgesamt rund 160 Ausbildungsplätzen in zehn Berufsfeldern. Gleichwohl wird ein Baustein unserer gemeinsamen Arbeit sein, den Frauenvollzug weiter zu optimieren.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

zu einer effektiven Bekämpfung von Kriminalität gehört nicht nur eine auf Resozialisierung ausgerichtete Vollziehung von Freiheitsstrafen; vielmehr kommt auch Haftvermeidungsprojekten eine entscheidende Bedeutung zu. Lassen Sie mich hierzu einige Gedanken ausführen:

Es ist der Landesregierung ein besonderes Anliegen zu vermeiden, dass Verurteilte, die eine Geldstrafe nicht zahlen können, diese "absitzen" müssen. Die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen führt häufig dazu, dass die Betroffenen für einige Wochen oder Monate aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen, Familien getrennt und Möglichkeiten der Resozialisierung erheblich erschwert werden. Wir müssen zunächst energisch versuchen, die verhängte Geldstrafe zu vollstrecken. Gelingt das nicht, muss die Möglichkeit der Tilgung der Geldstrafe durch gemeinnützige Arbeitsleistungen greifen. Wir wollen, dass dies künftig häufiger geschieht als zurzeit. Wir müssen die Verurteilten anleiten, um sie zu solchen Arbeitsleistungen zu motivieren. Durch sie erhält der Verurteilte eine durchaus spürbare Sanktion, die zugleich einen sozialen Nutzen hat; andererseits werden die Haftanstalten und damit die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler deutlich entlastet. Das Justizministerium wird kurzfristig Maßnahmen zu einer vermehrten Vermeidung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen ergreifen und zu diesem Zweck die Verordnung über die Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch freie Arbeit in den nächsten Monaten novellieren.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Paffrath,

Sie sehen, wir haben uns große Ziele gesetzt. Ich bin sicher, dass wir es gemeinsam schaffen werden, den Justizvollzug in Nordrhein-Westfalen moderner und zeitgemäßer zu gestalten. Ich wünsche Ihnen, Herr Paffrath, und allen Bediensteten der Justizvollzugsanstalt Essen weiterhin viel Erfolg für Ihre verdienstvolle Arbeit und hoffe auf eine gute Zusammenarbeit mit allen, die im Vollzug tätig oder ihm verbunden sind.